Emilie Mayer – ein „weiblicher Beethoven“?
Die immer mehr an Dynamik gewinnende Wiederentdeckung der 1812 in Friedland/Mecklenburg geborenen und dort aufgewachsenen Komponistin Emilie Mayer spiegelt sich in zahllosen Textbeiträgen. Und so kurz der Text auch jeweils sein mag – fast ausnahmslos wird die „Tatsache“ kolportiert, ihre Zeitgenossen hätten Emilie Mayer als „weiblichen Beethoven“ bezeichnet. Gibt man diese Stichworte in eine der Suchmaschinen ein, wird man erschlagen von der Fülle der durchaus klangvollen Quellen. Ins Auge fällt allerdings, dass musikwissenschaftliche Arbeiten – etwa das nach wie vor grundlegende Werk von Almut Runge-Woll – auf das Zitat vom „weiblichen Beethoven“ verzichten.
Mich hat der Beethoven-Vergleich (oder ist es nicht sogar eine Gleichsetzung?) schon immer gestört und zunehmend auch ein bisschen geärgert: Weil er zwar vordergründig wie ein großes Lob daherkommt, aber tatsächlich unreflektiert und offenbar aus schlichten Marketingerwägungen mit dem „großen“ Beethoven Eindruck zu machen versucht. Dabei hätte Emilie Mayer es verdient, als eigenständige Komponistin wahrgenommen zu werden. Unreflektiert ist das für mich aus zwei Gründen:
Angesichts der intensiven Debatte um eine geschlechtergerechte Sprache wirkt es ziemlich aus der Zeit gefallen, wenn eine Komponistin durch einen geschlechtsbezogenen Vergleich mit einem männlichen Kollegen in ihrer Bedeutung gesteigert werden soll. Oder käme jemand auf die Idee, einen Mann die „männliche Mutter Theresa“ zu nennen? Dass ausgerechnet die taz in einem Beitrag im Dezember 2022 ihren „LeserInnen“ ohne genderbezogenes Problembewusstsein den „weiblichen Beethoven“ präsentiert, wäre eigentlich eine Steilvorlage für einige Sticheleien seitens der Konkurrenz etwa von der FAZ. Aber die titelt sogar eine Mayer-Rezension im Mai 2022 mit „Der weibliche Beethoven“ (im Original ohne Anführungszeichen!).
Kaum weniger fragwürdig erscheint mir die Mayer-Beethoven-Gleichsetzung in musikalischer Hinsicht. Nun haben Cornelia Breitfeld, Martina Sichardt und andere herausgearbeitet, dass Emilie Mayer sich intensiv mit dem Werk von Beethoven beschäftigt hat. Dies war schon in ihrem Studium bei Adolph Bernhard Marx angelegt, dem wirkungsreichen Beethoven-Enthusiasten. Aber auf diese Auseinandersetzung kann der Beethoven-Vergleich wohl kaum abzielen. Sonst wäre ja die Zahl der „Beethovens“ schier grenzenlos. Es soll vielmehr augenscheinlich eine Ähnlichkeit der beiden komponierenden Personen in ihrem Wesenskern beschworen werden. Das ist – mit Verlaub – abwegig. Um nur einen Punkt zu nennen: Ob es Emilie Mayer gerecht wird, wenn man ihr Œuvre auf das „Epigonale“ reduziert, sei dahingestellt. Widersprechen wird man aber nicht können, wenn in einer überaus wohlwollenden Rezension in der Neuen Zeitschrift für Musik von 1867 zu lesen ist: „Im Styl schließt sie sich älteren Meistern an“. Ein größerer Gegensatz zu dem musikalischen Umstürzler Beethoven lässt sich kaum denken.
Das alles könnte man beiseitelassen, wenn man den Beethoven-Vergleich als das behandelte, was der eingangs erwähnte historische Kontext nahelegt: als eine zeitgebundene Merkwürdigkeit des 19. Jahrhunderts. Merkwürdig, weil der Vergleich einen deutlichen Drang zur Simplifizierung erkennen lässt, den man bislang als eine Erscheinung unserer Zeit wahrgenommen hatte. Nur: Stimmt es überhaupt, dass die Zeitgenossen Emilie Mayer als „weiblichen Beethoven“ bezeichnet haben? Einen Beleg dafür bietet – soweit ich das übersehe – niemand an. Also habe ich mich auf die Suche gemacht und die erreichbare Literatur über Emilie Mayer durchforstet. Da sich die aktuellen Beiträge durchweg auf die Zeitgenossen berufen, sollte man mehrere Quellen erwarten, die das belegen. Gefunden habe ich jedoch keine einzige. Es gibt zwar Rezensionen, die beethovenschen Bezüge oder sogar Anleihen in Mayers Werken erkennen. Aber keine Spur vom „weiblichen Beethoven“ – weder expressis verbis noch unausgesprochen. So schnell gebe ich freilich nicht auf. Für den ersten Nachweis eines zeitgenössischen Zitates, das Emilie Mayer als „weiblichen Beethoven“ bezeichnet, möchte ich mich bedanken: mit je einem Exemplar der in der Edition Massonneau erschienenen besonders schönen Mayer-Werke!
Bis zu einem Erfolg dieser Auslobung handelt es sich für mich um eine dieser Legenden, die einmal erzählt und dann ungeprüft ständig nachgebetet werden, bis sie am Ende zu „Tatsachen“ werden. Spannend ist dabei, dass es sich um eine relativ junge Mär handeln muss. Da Emilie Mayer seit ihrem Tod bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts faktisch vergessen war, dürfte die Urheberschaft in den letzten 50 Jahren zu suchen sein. Vielleicht ist diese Legende aber sogar erst nach 2001 entstanden, nämlich im Gefolge des Kongresses Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven“. Dort hat Martina Sichardt einen erhellenden Beitrag über Beethovens Geist aus Marx‘ Händen. Die Komponistin Emilie Mayer (1812-1882) vorgelegt. Der Umstand, dass die Autorin den Beethoven-Vergleich noch nicht einmal erwähnt, obwohl sich das thematisch geradezu aufgedrängt hätte, könnte ein Indiz dafür sein, dass dieser erst danach kreiert und Mayers Zeitgenossen angehängt worden ist. Vielleicht von jemanden, der nicht so genau zugehört oder gelesen hat und schnell mal eine flotte Schlagzeile brauchte.
Wie auch immer – bis zum Nachweis des Gegenteils sollten wir einfach auf diesen fragwürdigen Vergleich verzichten und Emilie Mayer als das sehen, was sie war: Emilie Mayer.
Dr. Reinhard Wulfhorst, Oktober 2023
In der Edition Massonneau sind bislang folgende Erstausgaben von Emilie Mayer erschienen:
Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello G-Dur
Sonate für Klavier und Violoncello h-Moll
Sonate für Klavier d-Moll / Marcia
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